Eine wundervolle Geste des Denkens selbst
Kurt Höretzeder über den utopischen Moment der Typografie und seine ganz besondere Liebe zu ihr.

Es zählt wohl zu den besonderen Fähigkeiten des Menschen, die Welt über Gefühle und bewusstes Denken wahrnehmen zu können. Nichts wäre es mit uns, wäre das Bewusstsein ein gestaltlos ablaufendes Etwas – eine monotone Zahlenfolge, ein Code, eine Formel. Aus Sinnesregungen, aus irrlichternden synästhetischen Funkenflügen formt sich in unserem Gehirn die Welt. Töne, Gerüche, Bewegungen, Farben, Formen undsoweiterundsofort werden in ihrem Zusammenspiel zu Gesten. Gesten, die die menschliche Emphatie gegenüber den Erscheinungsformen des Lebens begründen. Gesten, die sich „lesen“ lassen und die uns etwas – bedeuten.

Auch die Typografie ist so eine Geste, ein an Varianten unendlich reiches Spiel an Gesten, das Buchstaben, Wörtern und Texten Sinnlichkeit verleiht. Dieses Spiel kennt unübersehbar viele Tonalitäten und Ausdrucksformen – von „expressiv“, „groß“ und „laut“ inszenierten Typografien bis hin zu den „sublimen“, „kleinen“, kaum merklichen Gesten unserer Textschriften. Diese Gestaltwerdung des Denkens in der Schrift zählt zu den bemerkenswertesten Kulturleistungen des Menschen, von den frühen Kalligrafien bis hin zu den computergestützten Typografien der Gegenwart. Wie ein Gespräch mit der immergleichen, ohne Modulation vorgetragenen Stimme kaum eine Unterhaltung ermöglichte, wären ohne die Formenspiele der Typografie kaum jene mannigfaltigen, textgebundenen Verständigungsformen vorstellbar, die nun schon seit Jahrtausenden unsere Wissenskultur beflügeln.

Vilém Flusser meinte einmal, dass Gesten sich nicht durch das Aufzählen all ihrer „Ursachen“ erschöpfend erklären lassen. Auf die Typografie bezogen, hieße das: Natürlich ist das lebendige Wechselspiel aus positiven und negativen Formen interessant und wichtig, ebenso Zeilendurchschuss, Kerning, die richtige Länge beim Gedankenstrich oder das elfte Gebot, wonach man Schriften nicht verzerren darf. Aber diese immer wieder mit Verve verteidigten Details „guter“ Typografie verstellen manchmal den Blick darauf, dass sich ihr Faszinosum nicht in Regeln und Gesetzen und dem Credo einwandfreier Lesbarkeit erschöpft. – Wie jede Geste, ist auch die Typografie eine „freie“ Bewegung, und dazu meint Flusser: »Frei eben im Sinn von: erst aus ihrer Bedeutung, ihrer Zukunft, zufriedenstellend erklärbar. Davon muss man also ausgehen: dass es sich hier um eine freie Bewegung handelt, um einen Griff aus der Gegenwart in die Zukunft« (Flusser, Gesten). –

Von diesem Bild ausgehend, sind die Gestenspiele der Typografie auch – und vor allem – Stimulanzien für unser Denken und Bewusstsein. Wenn wir etwas lesen/denken, lesen/denken wir zugleich „etwas“ nicht. Dieses „Etwas“ ist das noch nicht Festgelegte, es ist da und zugleich ist es nicht da, es sorgt über das augenblicklich Les-/Denkbare hinaus für unbekannte Reizungen und fordert damit die Gewohnheit heraus, lässt sie hinter sich, um später wieder von ihr eingeholt zu werden. In dieser Ungleichzeitigkeit entsteht unser Vermögen, das Denken durch Formen und Bilder zu modifizieren, zu verändern.

Dieser „utopische“ Moment der Typografie, dieser seltsame zeitliche Vorgriff auf neue Empfindungen und Erfahrungen ist es, der mich so fasziniert. Wie sie es immer wieder schafft, ihre Wirkareale jenseits des Vertrauten, Gewohnten und Lesbaren zu entfalten. Wie sie es anstellt, diffuse Ahnungen, herumstromernde gedankliche „Nicht-Orte“ (»U-Topos«) durch das Gestaltwerden in Textbildern näher an das Wahrnehmungsfeld des Menschen heranzuführen und in „Zukunftsbilder“ zu verwandeln – genau darin besteht für mich ein so wirkmächtiges Agens kultueller Entwicklung. Ohne ein so vorgestelltes, utopisches „visuelles Denken“ (Otl Aicher) gäbe es kein menschliches Bewusstsein. Dieses tänzelnde Spiel treibt die Typografie nun schon einige tausend Jahre lang mit uns – und wir mit ihr. Und wir sind noch lange nicht am Ende – mit dieser wundervollen Geste des Denkens selbst.

Erschienen in: Andreas Pawlik, Martin Tiefenthaler (Hg.):
Subtext Typedesign, Niggli 2017

Kurt Höretzeder, Grafikdesigner, Typograf und Autor, geboren 1969 in St. Martin im Innkreis im oberösterreichischen Innviertel, studierte in Innsbruck Politikwissenschaften, Philosphie und Geschichte (Mag.phil) – eher aus Spaß (und natürlich Interesse). Seine eigentliche Leidenschaft gilt seit früher Jugend dem Grafikdesign (und, nebenbei erwähnt: auch dem Wort und der Literatur). Seit 1985 ist er grafisch tätig, 1996 begründet er mit zwei Partnern in Innsbruck »Circus. Büro für Kommunikation und Gestaltung«, von 2002 an führt er sein eigenes Büro »hœretzeder grafische gestaltung« in Scheffau am Wilden Kaiser, ehe dieses 2018 mit dem Studio von Thomas Schrott zum himmel fusioniert. Sein Engagement für zeitgenössisches Design ist österreichweit bekannt und zeigt sich auch im »WEI SRAUM. Designforum Tirol«, das er 2006 gegründet und bis 2019 geleitet hat. Gegenwärtig beschäftigt ihn das Projekt »kreativ.land.tirol.2025«, eine umfassende Strategie zur Förderung der Kreativwirtschaft in Tirol, an dessen Konzeption und Umsetzung er maßgeblich mitgewirkt hat.

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