Eva Maria Gintsberg
Herr Klein
Roman
ISBN 978-3-903667-01-3
180 Seiten
Hardcover mit Farbschnitt
€ 19,—
edition himmel bei Limbus
Eva Maria Gintsberg
Herr Klein
Herr Klein nahm sein Taschentuch, lüftete seinen Hut und wischte sich über seine glänzende Stirn. Ein penetranter Fliederduft nebelte ihn ein. Er schloss kurz die Augen, atmete tief ein, hielt inne und sprach leise:
Kirschkerne runterspucken …
dunkelrote, saftige Kirschen …
egal, ob sie Würmer haben …
Wer sind diese Herren Klein? Eine Person, die ein Doppelleben führt? Zwei Personen, die sich ein Leben teilen (müssen)? Oder doch nur eine zufällige Namensgleichheit? – Die Herren Klein: Der eine klettert mit Vorliebe auf Bäume und spuckt Kirschkerne in die Landschaft, der andere sitzt im Rollstuhl und verschwindet hinter seinen Büchern. Der eine reist in den Süden, der andere träumt davon. Der eine lebt, der andere ist vielleicht schon gestorben. – Vielleicht, vielleicht auch nicht.
Herr Klein, Eva Maria Gintsbergs erster Roman, führt den zarten Erzählstil der Autorin fort und entwirft ein Panorama von Geschichten und Geschichte, in dem sich Menschen, Zeiten und Ebenen abermals auf wundervolle Art begegnen. In diesem surrealen Mikrokosmos tummeln sich neben den beiden (beiden?) Herren Klein noch eine Reihe weiterer Figuren: Hedwig, die sich in den Gärten fremder Menschen herumtreibt; ein feiner Herr im weißen Leinenanzug, der mit einer Kiste weißer Pfirsiche im Gepäck in den Süden reist; der Briefträger, der sich in eine Trafikantin verliebt, natürlich unsterblich; Oskar, der Junge von nebenan, der plötzlich verschwindet; und schließlich die Erzählerin, die ihrerseits dem Glück hinterhereilt … Eva Maria Gintsbergs Geschichte macht die verborgene »Logik« des Lebens sichtbar, die keine Gesetze kennt und die dennoch ihre existenzielle Folgerichtigkeit hat.
»Eva Maria Gintsberg ist eine Zauberin, und zauberisch daher ihre Literatur. «
Felix Mitterer
Eva Maria Gintsberg
1966 in St. Johann in Tirol geboren. Schauspielausbildung von 1986 – 1989.
Seit 1989 Engagements an Theatern in Österreich, Südtirol, im Süddeutschen Raum und in der Schweiz. Zahlreiche Film- und Fernsehrollen. Seit 2009 ist sie als Vorleserin mit eigenen literarisch-musikalischen Programmen unterwegs. 2012 – 2018 Studium der Germanistik. Ihre literarischen Arbeiten umfassen Lyrik, Prosa, Drama. Sie lebt und arbeitet in Scheffau am Wilden Kaiser in Tirol. Ihre erste, 2020 erschienene Erzählung »Die Reise« wurde von der Kritik mit Bewunderung aufgenommen.
„Selten eine so skurrile, vergnügliche und berührende Geschichte gelesen.
‚Herr Klein’ wäre in der Runde von Hrabals Figuren in bester Gesellschaft.“
Wortspende: Christian Thanhäuser, Edition Thanhäuser Oberösterreich, 30.11.21
Rezensionen
Helmuth Schönauer
Kann man Alter, Gebrechlichkeit und Geistesverwirrung entkommen, wenn man in ein fiktionales Reich ausweicht? Und hilft für etwaige Mühsal eine imaginierte Pflegekraft, die durch bloßes Zuhören die Welt gut macht? Eva Maria Gintsberg entwirft mit ihrem Roman Herr Klein eine märchenhafte Welt, der man anmerkt, dass sie im Bedarfsfall auf die Schwerkraft verzichten kann. Hauptfigur ist eine Erzählerin, die einen seltsamen Posten bei einem Herrn Klein antritt. Sie soll zuhören, die Gedanken aufräumen und dem Herrn beistehen, wenn er den Faden verloren hat.
Herr Klein lässt sich kaum betreuen und schon gar nicht einordnen. Auf jeden Fall ist er gespalten in Körper, Geist und Verhalten. Einmal sitzt er im Kirschbaum und spuckt Kerne durch die Gegend, ein andermal sitzt er im Rollstuhl in der Bibliothek. Seine List: Er kann durch die Bücherwand verschwinden. Die Erzählerin weiß gar nicht, wo beginnen, weil es keine Chronologie gibt in jedem Reich, das aus Trance, Suggestion und Nostalgie besteht. Auf der sichtbaren Fläche könnte man von einer Zugehfrau sprechen, die regelmäßig den leicht verwirrten Helden betreut und ihm seinen Lebenslauf und vor allem seine Belesenheit in kleinen Portionen entlockt. Auf der Fläche der Phantasie breitet sich hingegen eine immense Bücherwelt aus, die vielleicht die wahre Welt des Herrn Klein bedeutet. Womöglich ist auch er nur etwas Angelesenes wie alle sonstigen Besonderheiten, etwa ein Goldfisch, der noch nichts von seiner eigenen Gattung gehört hat, weil er immer schon als körperloser Begriff gelebt hat.
Während der Rollstuhl fahrende Held offensichtlich jenem Reich des Bibliothekskosmos entsprungen ist, wie wir ihn meisterlich von Jorge Luis Borges vorgestellt haben, ist der Kirschen spuckende Teil ein Repräsentant unverwüstlicher Kindheit und entspricht einer Alice im Wunderland. Wer weiß, ob die Kirschkerne nicht Halluzinogene sind, die man in besondere Supermärkten kaufen kann. Vom Baum der Erkenntnis herab erzählt Herr Klein von seinen Freunden aus Kindertagen, einer hat Oskar geheißen, seine Mutter jedenfalls erzählt von einem Oskar, der ihr Kind gewesen sein soll. Andererseits ist dieser Oskar womöglich aber nur eine angelesene Figur, die aus der Blechtrommel entsprungen ist. Regelmäßig wird das Ratespiel um Identitäten unterbrochen von der Magie des Lesens. (Als Bibliothekar erlebt man alle paar Kapitel einen beruflichen Orgasmus, wenn die Welt der Bücher aufbricht und Gelassenheit und Verunsicherung in einem verströmt.) Ich war verunsichert, zweifelte plötzlich. War ich blind oder blöd? Vielleicht war die Bibliothek, das ganze Haus nur eine Kulisse. Die Bücher Dekoration. Die letzte Vorstellung eines in die Jahre gekommenen Stückes. Und Herr Klein spielte die Rolle seines Lebens. (57) Wenn Leute lange genug leben, wissen sie selbst nicht mehr, was sie erträumt oder erlebt haben, zumal das jüngere Publikum diese Geschichten nicht überprüfen kann. Die Erzählerin übernimmt mit der Zeit die Marotten des liebenswürdigen Phantoms, dass halb Stoff-los, halb als Stoff durch die Geschichten braust.
An manchen Tagen genügt es, das Wetter aufzuschlagen vor der Tür, und schon nimmt eine phantastische Handlung ihren Lauf. Besonders stark wirken diese Erlebnis-Pastillen bei Vollmond, plötzlich beginnt es zu rumoren wie in einem Hotel für Gespenster, die Schaukeln im Garten beginnen zu schwingen, gleichzeitig schwappt Wasser durch die Gassen, als durchfluteten sie eine Stadt aus Moder. (117) Seiten später sind noch immer die Geschichten zu Gange, aber der Bücherstapel, aus dem sie strömen, wird zusehends wackeliger, und dann kracht er zusammen. Die letzten Geschichten flattern auf als verschreckter Story-Schwarm. Bücher erzählen auch dann noch weiter, wenn sie zu Boden gefallen sind. Und draußen steht der Baum unbeirrt weiter, obwohl niemand mehr Kirschen daraus hervor spuckt. Niemand weiß, wie alt der Baum ist, niemand kann das Alter von Herrn Klein abschätzen. ‒ Die Erzählerin setzt sich in den Fauteuil des Herrn Klein und übernimmt seine Identität.
Eva Maria Gintsberg hat einen Traum vom Lesen aufgeschrieben, niemand erwacht daraus schweißgebadet, niemand ist erschöpft, weil es ein guter Traum ist. In einem verschollenen Märchen von den Bibliothekaren heißt es, dass sie den Herrn Klein täglich träumen.
von Helmuth Schönauer (BIP – Buch in Pension), Oktober 2021
Marcus Neuert, Literaturhaus Wien
Manchmal geschieht es im Leben, dass zu einer lang schon Beruf gewordenen Begabung eine weitere erst zeitversetzt entdeckt wird: die Tiroler Bühnenschauspielerin und Rezitatorin Eva Maria Gintsberg, Jahrgang 1966, hat sich in der vergangenen Dekade im Zusammenhang mit eigenen literarischen Vorleseprogrammen und ihrem späten Studium der Germanistik von 2012-2018 auch zu einer bemerkenswerten Schriftstellerin entwickelt. Dabei ist es für ihr Lesepublikum sehr angenehm, dass ihre Literatur weder von trockenem Akademismus noch von irgendeiner progressiven Schreibschulenhandschrift geprägt wird. Ihr erster Erzählband, „Die Reise“, fand letztes Jahr in der seinerzeit neu gegründeten und vom Innsbrucker Limbus-Verlag vertriebenen „edition himmel“ eine herausgeberische Heimat, und nun erschien jüngst ebendort auch ihr Romandebüt, geschmackvoll präsentiert in dunkelrotem Leineneinband mit Ton-in-Ton-Prägung und grünem Schnitt.
„Herr Klein“ könnte eigentlich auch „Die Herren Klein“ heißen, denn so ganz klar ist es nicht, ob es sich um einen oder zwei Protagonisten handelt. Der eine ist ein verliebter Flaneur, der ein Faible dafür hat, auf Bäume zu klettern und mit Kirschkernen zu spucken, der andere ist ein offenbar wohlhabender schrulliger Bücherwurm im Rollstuhl. Doch träumt nicht vielleicht einer die Rolle des anderen? Und welche Rolle spielt die Ich-Erzählerin, die in der Villa des Bücherwurms als Vorleserin und Bibliothekarin angestellt wird und vom ersten Tag an die surrealen Geschehnisse und Personenkonstellationen einzuordnen versucht, mit denen sie konfrontiert wird? Während der Flaneur gegen eine partielle Demenz kämpft, eine rätselhafte rundliche Venus verehrt und seine früh verstorbene Großmutter vermisst, verschwindet der Bücherwurm immer wieder unangekündigt für längere Zeit von der Bildfläche, hat offenbar eine ungeklärte Verbindung zu der Nachbarin Luise und ihrem Sohn Oskar und einen Goldfisch namens Friedrich, den er im Brustton der Überzeugung als Hasen bezeichnet. Des weiteren treten unter anderen auf: eine unglücklich in den Flaneur verliebte Trafikantin, ein unglücklich in die Trafikantin verliebter Postbote, ein stattlicher Herr im weißen Leinenanzug, der der Großmutter den Hof macht, die verstorbenen Eltern der Ich-Erzählerin, die deren Handlungen ungebeten und kritisch auf russisch kommentieren. Und das ist bei weitem noch nicht das gesamte skurrile Personal dieses Romans.
Der Flaneur Klein reist auf der Suche nach seiner Großmutter in den Süden, landet in Venedig und erlebt dort einen denkwürdigen Zwischenfall nach dem anderen. Parallel dazu versucht die Ich-Erzählerin, das Geheimnis des Bücherwurms Klein zu ergründen. Eines Tages ist Luises Sohn Oskar spurlos verschwunden – was hat es damit nun wieder auf sich? Es ist mitunter, als würde ein literarischer Polizist dem interessierten Publikum am Ort des Geschehens zurufen, man möge doch bitte weiterlesen, einfach weiterlesen – hier gebe es nichts zu verstehen. Und dieser Aufforderung kommt man eingedenk des locker perlenden Schreibstils jederzeit gerne nach. Auch sind die Motive der Handlung fein miteinander verwoben, begegnen einander und uns Lesenden immer wieder, wenn niemand sie erwartet, so etwa ein immer wieder gelesenes Buch mit blauem Einband, ein ausradiertes und stets neu zu lösendes Kreuzworträtsel oder die Großmutter von Herrn Klein, die mal als alte Frau und mal als kleines Mädchen auftritt. Gintsberg treibt eine wohlstrukturierte und hintergündige Scharade mit ihren Lesenden, lässt die Figuren sich und die Handlung mitunter gar selbst hinterfragen: Konnte man zwischen Geschichten herumspazieren, aus- und eingehen, wie es einem gerade in den Kram passte? (S.120).
Die Story mit all ihren subtilen Wendungen, die sich nur scheinbar nicht zusammenfügen wollen, mäandert durch Zeit und Raum, die erzählerischen Hauptstränge um die vermeintlich beiden Herr Kleins miteinander verknüpfend und am Ende tatsächlich auch ineinander auflösend. Gintsberg findet mit ebenso nur scheinbar leichter Hand ihre Geschichte: in Wahrheit ist diese minutiös und kunstreich konstruiert. Ihr Zauber besteht darin, dass man ihr dies zu keinem Zeitpunkt der Lektüre anmerkt und dass auch am Schluss viele Fragen offenbleiben, viele Fäden so oder auch anders verknüpft worden sein könnten. Von solcher Literatur lässt man sich gern ein wenig foppen, zum Besten halten – denn genau das ist das Gefühl, das sich einstellt, sobald man das Buch zugeklappt hat und auf dem Einband die Gattungsbezeichnung „Roman“ liest, so als könne es sozusagen auch ein „Namor“ oder ein „Ramon“ sein, durch den einfachen Willen der Autorin anagrammatisch umgestellt und uns dennoch verständlich, jedoch ohne einen letztgültigen Sinn, eine einzige unumstößliche Interpretationsmöglichkeit des Geschehens erkennbar werden zu lassen. Eva Maria Gintsberg ist ein märchenhaftes Buch des Surrealen gelungen, welches bis zum Schluss seine Geheimnisse nicht vollkommen preisgibt und wie vielleicht alles wirklich Literarische keine Antworten bereithält, sondern auf die Schönheit der Fragen vertraut.
Rezension von Marcus Neuert, 11. Oktober 2021
Senta Wagner, lesen & schreiben Wien
So ein wundersames, melancholisches Buch ist das, voller „himmelblauer Geschichten“, in dem die „Wörter und Sätze, ein- und ausgehen“. Die vom Kirschkernspucken erzählen, aber noch mehr von Büchern, also „riesigen Bücherstapeln“, „Bücherstapeln wie Hochhäuser“ in der Bibliothek des Herrn Klein. Dort werkt die Vorleserin: vorlesen, abstauben, sortieren. Die Einsamkeit begreifen und was herausfinden: „Herr Klein versank zwischen den Buchdeckeln …“
Verflixt, und dieser andere Herr Klein, der zunehmend vergisst und seine verschwundene Großmutter in der Stadt der Gondeln entdeckt? Wer ist der? Eva Maria Gintsberg bringt das zusammen: mit ein bisschen „Hokuspokus“, Fantasie, Leichtfüßigkeit und Amusement. So köstlich, verzaubernd. Und so hübsch anzuschauen.
Rezension von Senta Wagner, 8. November 2021
Fritz Popp, Österreichisches Bibliothekswerk
Das Personal des Romans ist reichlich skurril und irrlichtert verführerisch durch den Text. Da ist einmal natürlich Herr Klein. Der tritt in zweifacher Form auf, als handle es sich um zwei denkbare Lebensentwürfe: Zum einen als ein im Rollstuhl sitzender Bücherfreak, wohlhabend und seltsam verschroben, im Besitz eines Goldfisches namens Friedrich, den er allerdings als seinen Hasen bezeichnet, was die Ich-Erzählerin, von ihm als Vorleserin und Bibliothekarin angestellt, doch etwas irritiert. Sie wird von den Stimmen ihrer Eltern und diversen Vorstellungen heimgesucht, die ihr das Leben etwas verkomplizieren. Dann gibt es aber zum andern noch einen zweiten Herrn Klein, der am liebsten auf Bäume klettert und Kirschkerne herunterspuckt. In ihn ist die Trafikantin verliebt, was er jedoch nicht zur Kenntnis nimmt. Er reist auf der Suche nach seiner Großmutter in den Süden und hat in Venedig und Umgebung reichlich surreale Begegnungen und Erlebnisse, die ihn nicht aus dem Staunen kommen lassen. In der Zwischenzeit versucht die Ich-Erzählerin, ihrem Herrn Klein und seinen Geheimnissen auf die Schliche zu kommen.
Charmant und verspielt, mit großer Sprachkunst erzählt, ein reizendes Beispiel phantastischer Literatur mit märchenhaften Zügen, das viel Raum zum Imaginieren lässt. Vor allem für Leser*innen mit Faible fürs Skurrile. Und Liebhaber*innen besonders schön ausgestatteter Bücher.
Anna Spaemann, Literatur Tirol
Erst nach einer Reihe von Ausbildungen im Bereich, Schauspiel sowie Stimm- und Sprechbildung absolvierte die Autorin Eva Maria Gintsberg, geboren 1966 in Tirol, im Jahr 2018 das Studium der Germanistik. Gut Ding braucht manchmal eben Weile. Im Mai 2020 veröffentlicht sie ihr erstes Buch Die Reise im erlesenen Programm der edition himmel bei Limbus; ein Verlag gegründet von Grafikdesigner, Typograf und Autor Kurt Höretzeder und Grafikdesigner und Fotograf Thomas Schrott, die in diesem Vorhaben ihre Leidenschaft für das gedruckte Buch und die Lust am Lesen vereint sehen wollen. Mit Herr Klein veröffentlicht Eva Maria Gintsberg nun ihren ersten Roman in diesem Verlag, dessen Bücher sich auch durch die bibliophile Gestaltung auszeichnen.
Dass die Autorin im Hinblick auf den Literaturbetrieb erst eher spät zum Schreiben fand, ist vielleicht ein besonderer Glücksfall, denn Eva Maria Gintsberg vermittelt das Gefühl eines unbeeinflussten und individuellen Schreibstils, der im Gedächtnis bleibt.
Herr Klein oder die Herren Klein
Zwei Protagonisten, die den gleichen Namen tragen: So ganz klar ist es nicht, wer die beiden Personen genau sind – oder ob es sich überhaupt um zwei Protagonisten handelt. Selbst der Klapptext fragt: Geht es um ein Doppelleben? Ein geteiltes Leben? Teilen die Protagonisten doch nur den Namen? Ein Herr Klein klettert gerne auf Bäume und spuckt Kirschkerne, der andere sitzt im Rollstuhl und liebt Bücher. Wer träumt sich in welche Rolle? Dann taucht eine Ich-Erzählerin auf. Sie ist die Bibliothekarin und die Vorleserin des Bücher-affinen Herr Kleins. Die Ich-Erzählerin berichtet von Geschehnissen und Personen, von deren Skurrilitäten und Verbindungen zueinander. Doch viel schlauer als die Leser*innen ist sie auch nicht. Die Figuren treffen sich auf unterschiedlichen Ebenen, in unterschiedlichen Zeiten, hängen teils lose zusammen, teils überschneiden sie sich. Die Ich-Erzählerin scheint wie eine Verbündete der Leser*innen, die ebenso wie diese, versucht, die Geschehnisse und die Figuren einzuordnen. Das Buch präsentiert sich wie ein ganz eigener Mikrokosmos, in dem sich neben den zwei (oder dem einen?) Herr Klein(s) eine ganze Menge anderer, loser Figuren finden: unglücklich verliebte Trafikanten und Postboten, eine sich in Gärten aufhaltende Hedwig, ein ansehnlicher Herr im weißen Leinenanzug, verstorbene Eltern und Großeltern, die Nachbarin Luise, der Junge von nebenan namens Oskar und natürlich die Ich-Erzählerin, deren Rolle auch nicht klar einzuordnen ist. Die Figuren und ihre Konstellationen wirken so zufällig und skurril, dass man manchmal den Zusammenhang der Handlung sucht.
Anti-Chronologie, Anti-Linearität
Aber muss die Handlung unbedingt zusammenhängen, linear sein, immer auf den ersten Blick verständlich? Herr Klein sagt Nein: Lockere Handlungsstränge und die komischen Protagonist*innen müssen nicht verstanden werden – es reicht oft, einfach weiterzulesen. Der Schreibstil der Autorin fließt locker und perlend und zwingt die Leser*innnen teilweise schon fast in den Lesefluss, den Flow. Und es funktioniert: Das Buch ist nur schwer aus der Hand zu legen, möchte man doch trotzdem die Handlungsstränge zusammenführen können, die vielen feinen Wendungen auflösen, den Roman zusammenbauen. Trotz der Episodenhaftigkeit der Handlung, die sich auch im Aufbau des Romans anhand der vielen Absätzen und kurzen Kapiteln zeigt, gibt es nämlich nichtsdestotrotz subtile Zusammenhänge und kontinuierliche Motive, die sich durch den ganzen Roman ziehen und den aufmerksamen Leser*innen das Gefühl geben, ganz kurz vor der großen Erkenntnis zu stehen. Die Motive sind ebenso wie die Protagonist*innen leicht miteinander verwoben, es gibt hier immer wieder zu lesende Bücher, immer wieder zu lösende Kreuzworträtsel, eine immer wieder auftretende Großmutter. Es bleibt einem als Leser*in nichts anderes übrig, als abzuwarten und weiterzulesen, als zu hinterfragen und Verknüpfungsversuche zu machen.
Sprache ist Musik
Eva Maria Gintsberg verzaubert nicht nur durch die Kunst, eine Handlung so locker und gleichzeitig fesselnd zu konstruieren, sondern auch durch ihren leichten und harmonischen Schreibstil, der manchmal eher an Musik als an einen klassischen Roman erinnert. Sie selbst sagt, dass Sprache Musik ist und eine Körperlichkeit braucht und dass jeder Text Rhythmus, Ton und Klang hat. Dadurch kann beim Lesepublikum etwas hinterlassen werden. Genau das zeichnet auch Herr Klein aus. Die Autorin spielt mit Worten und schafft fantastische, märchenhafte Bilder, die hängen bleiben. Die kurzen Absätze zeichnen teilweise den Eindruck von einem Lied, womit der melodische Klang der verwendeten Sprache räsoniert. Es braucht keine wortgewaltige Tiefe, um bildgewaltige Eindrücke zu schaffen. Oft möchte man innehalten, um dem Klang der Sprache nachzuhängen, doch ebendiese trägt die Leser*innen beinahe fliegend durch den Roman – möchte man doch dringend die Handlungsfäden selbst verknüpfen. Das mag nicht unbedingt gelingen, doch genau das ist mitunter das Schöne an dem Buch: Die Autorin lässt am Ende viele Fragen offen und zeigt, dass nicht immer alles eindeutig interpretiert und ausgelegt werden muss. Es braucht nicht immer endgültige Antworten – viel wichtiger ist das (Hinter-)fragen an sich.
*Ein Beitrag im Rahmen von Uni-LiLiT: Literaturstudierende der Universität Innsbruck berichten über die Innsbrucker Literaturszene und darüber hinaus. Eine Kooperation von LiLiT – Literarisches Leben in Tirol und Innsbrucker Zeitungsarchiv